Es beginnt mit einem Versprechen: Kinder schützen, Missbrauch verhindern, Täter überführen. Kein Mensch kann gegen dieses Ziel sein. Und doch liegt in dem Entwurf zur sogenannten EU-Chatkontrolle eine der gefährlichsten Weichenstellungen unserer Zeit. Unter dem Banner des Kinderschutzes droht ein System zu entstehen, das die privateste Form menschlicher Kommunikation – das vertrauliche Wort – technisch durchleuchtet. Jede Nachricht, jedes Foto, jedes gesprochene Wort soll künftig auf den Geräten der Bürger gescannt werden, bevor es verschlüsselt wird. Das klingt nach Sicherheit – und bedeutet in Wahrheit ihr Ende.
Denn Verschlüsselung ist kein Spielzeug für Geheimniskrämer, sondern Grundvoraussetzung moderner Demokratie. Sie schützt Anwält:innen und Ärzt:innen ebenso wie Journalist:innen, Whistleblower, Oppositionelle oder ganz einfach Menschen, die in Würde kommunizieren wollen, ohne dass jemand mithört. Wer diese Sicherheit schwächt, greift nicht nur in Privatsphäre und Datenschutz ein – er legt Hand an das Fundament der Meinungsfreiheit.
Die geplante Verordnung der Europäischen Kommission tut genau das. Sie verpflichtet Diensteanbieter, ihre Systeme für eine „Aufdeckungsinfrastruktur“ zu öffnen: ein digitales Raster, das alle Bürger unter Generalverdacht stellt. Was als gezielte Maßnahme gegen sexuelle Gewalt angekündigt wurde, wird in der Umsetzung zu einer Form der anlasslosen Massenüberwachung. Das Prinzip „Client-Side-Scanning“ bedeutet, dass jede Nachricht vor ihrer Verschlüsselung mit staatlich vorgeschriebenen Datenbanken abgeglichen wird. Ein Hintertürchen, das – einmal eingebaut – nie wieder geschlossen werden kann.
Der Dammbruch
Selbst die schärfsten Fachleute der IT-Sicherheit warnen: Eine Hintertür ist nie exklusiv für „die Guten“. Sie ist ein Einfallstor für Missbrauch, für Hacker, für autoritäre Regierungen. Die Fehlerquote solcher Systeme ist enorm – Millionen falscher Alarme wären programmiert, intime Urlaubsbilder könnten zu Ermittlungsakten werden. Und während Täter ihre Daten längst zusätzlich verschlüsseln oder alternative Kanäle nutzen würden, stünde die gesamte Bevölkerung nackt im digitalen Raum.
Reporter ohne Grenzen spricht von einem Angriff auf die Pressefreiheit, Amnesty International von einer Gefährdung der Demokratie selbst. Der Chaos Computer Club nennt das Vorhaben einen IT-Sicherheitsalbtraum. Und die Gesellschaft für Freiheitsrechte weist darauf hin, dass eine anlasslose Überwachung verschlüsselter Kommunikation den Wesensgehalt des Grundrechts auf Privatsphäre verletzt.
Die deutsche Verantwortung
Besonders bitter ist, dass Deutschland – das Land, das aus zwei Überwachungsstaaten hervorging – nun offenbar bereit ist, seinen Widerstand aufzugeben. Ausgerechnet ein Staat, der einst gelernt hat, wie gefährlich es ist, wenn Regierungen das Lauschen institutionalisieren, scheint zu vergessen, dass Freiheit immer mit Misstrauen gegenüber der Macht beginnt. Die Stasi hat Akten geführt, die Gestapo hat Nachbarn gegeneinander ausgespielt; die neue Gefahr heißt nicht mehr Spitzel, sondern Algorithmus. Sie hört nicht über Wanzen, sondern über Code. Aber das Prinzip bleibt gleich: Kontrolle frisst Vertrauen.
Deutschland hat im europäischen Kontext eine besondere moralische Verpflichtung, den Schutz der Privatsphäre zu verteidigen. Wenn Berlin jetzt einknickt, wird das nicht als politisches Manöver gewertet, sondern als europäischer Tabubruch. Es wäre das erste Mal, dass eine westliche Demokratie die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung faktisch abschafft – und damit den digitalen Briefkasten jedes Bürgers öffnet.
Der falsche Kampf
Niemand bestreitet, dass Kinder vor sexualisierter Gewalt geschützt werden müssen. Aber dieser Schutz entsteht nicht durch Massenüberwachung, sondern durch gezielte Ermittlungen, Prävention, Bildung und internationale Kooperation. Wer Milliarden privater Nachrichten scannt, ohne Verdacht, ohne richterlichen Beschluss, schafft keine Sicherheit – er zerstört sie. Denn eine Gesellschaft, die jedem Bürger grundsätzlich misstraut, verliert ihre Freiheit in kleinen, kaum bemerkten Schritten.
Es ist ein gefährlicher Irrtum, zu glauben, man könne die Demokratie sichern, indem man sie aushöhlt. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft beginnt nicht mit einem Knall, sondern mit einem Beschluss im Namen des Guten. Und doch führt er dorthin, wo Europa nie wieder hinwollte.
Die letzte Linie
Deutschland steht jetzt vor einer historischen Entscheidung. Sie ist größer als ein Gesetzestext, größer als die politische Taktik des Augenblicks. Sie betrifft das Verhältnis zwischen Bürger und Staat, zwischen Freiheit und Kontrolle.
Wenn dieses Land, geprägt durch die Lehren aus Gestapo und Stasi, heute zustimmt, jede private Nachricht durch Maschinen prüfen zu lassen, dann verrät es nicht nur seine Geschichte – es gefährdet seine Zukunft.
Kinderschutz braucht Stärke, aber keine Allmacht.
Freiheit braucht Schutz, aber keine Filter.
Und Demokratie braucht Vertrauen – in ihre Bürger, nicht in ihre Scanner.