Wer über Krisen spricht, meint oft die sichtbaren Erschütterungen des Lebens: Diagnosen, Unfälle, Verluste. Doch was ist mit jenen, die nicht selbst erkranken – sondern Tag für Tag aushalten, begleiten, funktionieren? Jenen, die an der Seite anderer stehen, weil Liebe keine Pause kennt? Carolin Oder kennt dieses Leben. Sie ist Rednerin, Mentorin, Autorin, Podcasterin, Mutter – und seit zwanzig Jahren Krisenerfahrene.
Ihr Vater stirbt, als sie dreißig ist, ein Jahr später erhält sie selbst eine Hirntumor-Diagnose. Ihr erster Sohn kommt mit einer seltenen, genetischen Bindegewebserkrankung zur Welt – 20 Operationen folgen. In einer Nacht 2022 muss er nach einer Herz-OP reanimiert werden. „Wir wussten nicht, ob er hirntot ist.“ Es ist einer der dunkelsten Momente – und doch nicht der einzige. Die psychische Erschöpfung folgt, eine posttraumatische Belastungsstörung wird diagnostiziert.
Heute spricht Carolin Oder offen über das, was viele für sich behalten: den mentalen Preis des Helfens, die Last des Durchhaltens, die stille Selbstaufgabe aus Liebe. Und sie hat einen Weg gefunden, Worte dafür zu finden – in Vorträgen, im Podcast, in ihrem neuen Buch "Plötzlich Krise – Was jetzt?".
Zwischen Akzeptanz und Aufbruch
Wer glaubt, Resilienz sei eine Eigenschaft, irrt. Sie ist ein Prozess – mal stark, mal brüchig. „Es geht nicht darum, dass ein Therapeut etwas wegnimmt“, sagt Carolin Oder. „Sondern darum, dass wir lernen, die Unsicherheit zu tragen.“ Es sei das größte Missverständnis vieler Therapiesuchender, dass jemand das Leid neutralisiere – stattdessen gehe es um eine neue Art der Selbstverantwortung. Und die beginnt, wenn man erkennt, dass man selbst nicht unverwundbar ist.
Ich habe Jahre gebraucht, bis ich mal stolz darauf war, dass ich eine Mama bin – und Hausfrau – und eine, die Krisen managt.
Carolin Oder
Über Jahre hinweg entwickelte sie – zunächst unbewusst – ein Muster: Strategien, die halfen, wenn alles wankte. Erst rückblickend wurde ihr klar: Diese Schritte ließen sich benennen. Sie nennt sie das „Genau so“-Prinzip: Geht nicht gibt’s nicht. Emotionen zeigen. Netzwerk stärken. Akzeptanz üben. Ungewissheit eingehen. Selbstliebe praktizieren. Optimismus leben. Und: Erfüllung finden.
Viele dieser Worte klingen weich, beinahe aus dem Repertoire gängiger Lebensratgeber. Doch bei Oder haben sie Gewicht – weil sie nicht von außen übergestülpt, sondern von innen heraus gefunden wurden. Wer so lange im Ausnahmezustand lebt, braucht keine schnellen Rezepte, sondern tragfähige Haltungen. „Ich habe mich selbst komplett vergessen – und Jahre gebraucht, um stolz darauf zu sein, einfach nur Mutter zu sein. Und Hausfrau. Und Krisenmanagerin.“
Zwischen Optimismus und Erschöpfung
Die Krise endet nie – das ist eine der bitteren Wahrheiten, die Carolin Oder in aller Klarheit ausspricht. Und dennoch: Sie bleibt nicht in der Ohnmacht stecken. „Ich habe irgendwann erkannt, dass ich meiner Familie mehr nütze, wenn ich selbst erfüllt bin.“ Sie beginnt zu schreiben, startet einen Podcast, hält Vorträge. „Ich mache endlich etwas, das nur für mich ist.“ Es ist kein Rückzug, sondern eine Neuverortung. Ein Schritt zurück zu sich selbst – und zu neuer Stärke.
Optimismus, sagt sie, sei nicht Naivität. Sondern eine Entscheidung. „Wenn du durch den Tunnel fährst und nicht weißt, ob am Ende das Licht oder der Abgrund kommt, dann hilft es dir, dir den besten Fall vorzustellen.“ Es klingt fast widersinnig: Im Moment größter Not – an das Beste glauben. Doch genau dieser Glaube hat sie getragen.