Es sind nicht mehr große Wahrheiten, die unsere gesellschaftlichen Narrative prägen, sondern kleine, algorithmisch verstärkte Stimmungen. Früher bestimmten Verlagshäuser, Fernsehanstalten und Chefredaktionen, welche Themen sichtbar waren. Heute ist es ein kaum durchschaubares Netz aus Plattformlogiken, Clickbait-Ökonomien und auf maximale Erregung programmierten Rechenmodellen, das unsere Aufmerksamkeit lenkt – und damit unsere Wirklichkeit formt.
Der Medientheoretiker, Autor und Technologie-Kritiker Douglas Rushkoff beschreibt diese Entwicklung als schleichende, aber tiefgreifende Verschiebung: „Früher erzählte ein Nachrichtenfilm im Kino, dass ein Land kommunistisch wird und man eingreifen müsse – heute ist es ein ständiger Strom kleiner Geschichten, der sich wie ein atmosphärischer Nebel über alles legt.“ Wer sich in sozialen Netzwerken bewegt, merkt schnell: Nicht der Inhalt allein zählt, sondern die Umgebung, in der er erscheint. Die Plattform selbst wird zur Botschaft.
Vom Silicon Valley ins Mittelalter
Besonders beunruhigend ist, dass viele der Architekten dieser Systeme nicht aus demokratischen Weltbildern schöpfen – sondern aus Kindheitserfahrungen der Angst und Kontrolle. Rushkoff verweist auf das Milieu, in dem etwa Elon Musk oder Peter Thiel sozialisiert wurden: als weiße Söhne wohlhabender Familien im Apartheid-Südafrika. „Man stellt sich das wie ein Haus mit zwei Etagen vor. Jede Nacht zieht man das Gitter über die Treppe, damit unten niemand hochkommt“, sagt er. Wer so aufwächst, sieht die Welt als Bedrohung – und organisiert Macht nicht als Verantwortung, sondern als Schutz.
Für Rushkoff ist klar: Viele der Tech-Eliten streben eine neue Form von Feudalismus an. Wer es sich leisten kann, baut sich eine Festung, verschanzt sich hinter KI-gesteuerten Sicherheitssystemen und wünscht sich eine Gesellschaft, in der nur wenige bestimmen, was wahr und sichtbar ist – während der Rest als Risiko betrachtet wird. Der technokratische Totalitarismus sei keine Dystopie der Zukunft, sondern „wir sind längst über den Klippenrand hinaus“.
Gegenmacht durch Nähe
Was bleibt also? Resignation? Nein, sagt Rushkoff im Rahmen des DLD Future Hub: Impact of AI in München. Gerade in der Zeit algorithmischer Überforderung liege die Kraft im Einfachen. Seine Antwort auf die Frage nach gesellschaftlicher Resilienz wirkt zunächst überraschend banal: Freunde treffen, tanzen gehen, mit Kindern oder Hunden Zeit verbringen, in der Natur sein, weniger verdienen, mehr teilen. Aber genau darin liegt die politische Sprengkraft. „Je vernetzter du lokal bist, desto weniger Druck übst du auf globale Systeme aus. Und desto weniger angreifbar bist du selbst.“
Das ist mehr als nur romantischer Eskapismus. Es ist ein Plädoyer für eine neue Form des Widerstands: durch Nähe, durch Beziehung, durch ein bewusstes Aussteigen aus den Logiken, die unsere Aufmerksamkeit kapitalisieren und unsere Selbstwahrnehmung verformen. Es geht nicht darum, die Welt zu ignorieren – sondern darum, sich ihr nicht vollständig auszuliefern.