Es gibt keine Zäsur, keinen dramatischen Paukenschlag, keinen einzigen Tag, an dem eine Demokratie zerfällt. Der Niedergang beginnt leise. Er beginnt in Momenten des Schweigens, in denen niemand widerspricht, wenn rassistische Parolen als Alltagsmeinung daherkommen. Er beginnt in der politischen Abstinenz jener, die sich selbst nicht mehr als politische Wesen begreifen. Und er beginnt im Glauben, Institutionen allein seien stark genug, um die extremistischen Bewegungen unserer Zeit aufzuhalten.
Die türkische Schriftstellerin und politische Beobachterin Ece Temelkuran nennt diesen Prozess auf dem 48forward Festival 2025 in München „die Mechanik des neuen Faschismus“. Es ist kein historischer Rückfall, sondern ein globaler politischer Trend, gespeist aus Entfremdung, Erschöpfung, digital beschleunigter Kommunikation und einer systematischen Abwertung politischer Sprache. „Confusion on a massive scale is a tool for the new kind of fascism“, sagt Temelkuran. Verwirrung, Überforderung, Geschwindigkeit – alles Faktoren, die jene Paralyse erzeugen, in der Demokratien besonders verletzlich werden.
Die trügerische Sicherheit der Institutionen
Temelkuran beobachtet Deutschland mit einer Mischung aus Bewunderung und Sorge. „German people … cannot imagine that rules can be broken. They still cannot imagine that institutions crumble.“ Diese Haltung nennt sie „liebenswert und gefährlich zugleich“ – liebenswert, weil sie auf Vertrauen basiert; gefährlich, weil genau dieses Vertrauen Blindstellen erzeugt.
Eine Demokratie kann nicht allein auf Gerichte, Behörden oder Verfassungsschutz bauen. Institutionen bestehen aus Menschen – und Menschen sind beeinflussbar. „Why do you think courts are immune? Why do you think these institutions are immune to politics?“ fragt Temelkuran.
Auch die Hoffnung, technokratische Mitte-Parteien könnten den autoritären Trend aufhalten, hält sie für trügerisch. Viele dieser Parteien würden längst versuchen, den Ton der extremen Rechten zu imitieren, anstatt ihr entschieden zu widersprechen. Gleichzeitig verlagerten Bürgerinnen und Bürger politische Verantwortung nach außen: auf den Staat, auf die Justiz, auf „die Politik“ – irgendwo hin, nur nicht zu sich selbst.
Dabei ist Politik kein abstraktes Handlungsfeld, sondern alltägliche Praxis. „Politics happens when we don’t say anything“, sagt Temelkuran. Wenn eine Gesellschaft aufhört, sich in politischen Fragen sichtbar und hörbar zu bewegen, dann entstehen jene Räume, in denen autoritäre Bewegungen ihre Erzählungen ausbreiten.
Digitale Geschwindigkeit und der Verlust von Maßstäben
Der neue Autoritarismus bedient sich der Logik digitaler Plattformen: alles ist schneller, lauter, gleichzeitig. Temelkuran beobachtet, wie Donald Trump in den USA „in wenigen Monaten geschafft hat, wofür Erdogan 15 Jahre brauchte“. Geschwindigkeit wird zur Waffe: nicht nur, um Institutionen zu überfordern, sondern auch, um die Bevölkerung zu betäuben.
Zugleich verlieren Worte ihre Bedeutung. Wenn Trump darüber scherzt, ein „Faschist“ genannt zu werden, zeigt sich eine gefährliche Verschiebung des politischen Vokabulars. Beschwichtigung, Ironisierung, Banalisierung – sie alle tragen dazu bei, dass politische Grenzverletzungen nicht mehr als solche erkannt werden.
Die Öffentlichkeit stumpft ab. Und das ist der Moment, in dem der Verlust der Demokratie nicht mehr als Katastrophe erscheint, sondern als verwaltungstechnischer Vorgang.
Die Rückkehr des Politischen
Ist eine Umkehr möglich? Temelkuran sagt: ja – aber nicht durch Hoffnung allein. Hoffnung sei ein passiver Zustand, fast ein Konsumprodukt. Was fehle, sei etwas anderes: „It’s not hope we lost. It is faith. Faith in ourselves … and in each other.“
Dieser Glaube an die eigene politische Wirksamkeit – das Vertrauen darauf, dass Worte, Haltung, Widerspruch und Solidarität etwas bewirken – sei in den vergangenen Jahrzehnten schleichend erodiert.
Temelkuran fordert eine Rückkehr zu einer politischen Kultur, die Mut und Ehrlichkeit verlangt. Eine Kultur, die unbequeme Wahrheiten aushält, etwa wenn es um Migration geht – ein Feld, in dem viele europäische Demokratien, wie Daniel Fürg im Gespräch anmerkt, „kurzfristige Ehrlichkeit“ betreiben, anstatt langfristig zu denken. Eine Kultur, die die Frage „Welche Art von Mensch will ich sein?“ nicht als moralischen Luxus begreift, sondern als politische Notwendigkeit.
„We lost our belief that words matter … and that we are political agents capable of changing the world“, sagt Temelkuran.
Das ist nichts Naives. Es ist die Grundbedingung jeder Demokratie.