Die Welt, in der Führung heute stattfindet, ist geprägt von Brüchen. Alte Loyalitäten bröckeln, traditionelle Hierarchien verlieren an Zugkraft, und selbst erfolgreiche Organisationen schaffen es kaum noch, Mitarbeiter über die Marke an sich zu binden. Die große Zugehörigkeit hat sich aufgelöst – was bleibt, ist das Bedürfnis nach Sinn, nach Wirkung, nach Identifikation mit der eigenen Tätigkeit. Führung findet zunehmend in einem Raum statt, der weniger durch Titel und Zugehörigkeit als durch Überzeugung und Haltung definiert ist.
„Es gibt eine Entkopplung von Commitment und Loyalität“, sagt Gianpiero Petriglieri, Professor für Organisationsverhalten an der Business School INSEAD. „Die Menschen wollen sich mit ihrer Arbeit identifizieren – nicht notwendigerweise mit dem Unternehmen, für das sie arbeiten.“ Das ist keine Schwäche, sondern Ausdruck eines gewandelten Selbstverständnisses in einer Welt, in der Identität mobil geworden ist. Wer sich heute mit seiner Aufgabe verbunden fühlt, möchte diese Identität mitnehmen können – auch in andere Kontexte. „Wir wollen nicht nur sinnvoll arbeiten. Wir wollen auch portabel sein“, so Petriglieri.
Führungskräfte, die das verstehen, setzen nicht mehr auf Kontrolle, sondern auf Einladung. Sie schaffen Räume, in denen Selbstverwirklichung und Beitrag zueinander finden – nicht als Idealbild, sondern als gelebter Alltag.
Gesten statt Poster
Kultur, so Petriglieri, ist kein Poster im Eingangsbereich. Sie entsteht durch Verhalten. Durch das, was Führungskräfte sichtbar machen – vor allem dann, wenn Entscheidungen getroffen, Ressourcen verteilt oder Erfolge anerkannt werden. „Wenn du sagst, hier geht es um Werte, aber bei der nächsten Beförderung zählen nur Zahlen, ist das eine Botschaft. Und zwar eine andere als die auf dem Mission-Statement.“
Gerade in Zeiten der Unsicherheit wird dieses Prinzip auf die Probe gestellt. Dann verengen sich Horizonte, Angst ersetzt Haltung, kurzfristiges Denken verdrängt langfristige Orientierung. „Wie bleibe ich Mensch, wenn mich die Angst mechanisch werden lässt?“, fragt Petriglieri – und gibt selbst die Antwort: durch Verbindung. „Die Antwort auf alle großen Fragen in Führung, Leben und Arbeit ist am Ende dieselbe: Freundschaft.“
Aber nicht im Sinne von Vertraulichkeit oder Nähe. Freundschaft heißt: sich gegenseitig erinnern an das, was möglich ist. Freundschaft bedeutet Widerspruch, Wahrheit und das Angebot, mehr zu sein als ein Reflex der eigenen Ängste. „Unsere besten Freunde helfen uns nicht, so zu bleiben, wie wir sind. Sie helfen uns, der Mensch zu werden, der wir sein könnten.“
Die Kraft der Frage
Moderne Führung ist dabei kein Akt der bloßen Tatkraft. „Der Mut zu handeln bringt Sichtbarkeit“, so Petriglieri. „Aber der Mut zu fragen bringt Sicherheit.“ Fragen zu stellen – gerade wenn es einfacher wäre, in Gewissheiten zu verharren – ist keine Schwäche, sondern ein Zeichen innerer Stärke. Wer führt, muss bereit sein, nicht nur zu senden, sondern auch zu hören.
Führung ist der Versuch, eine Lücke zu schließen – zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie sie sein könnte.
Gianpiero Petriglieri
In einer hybriden, oft entfernten Arbeitswelt wird das zur essenziellen Disziplin. Vertrauen entsteht nicht durch Nähe im räumlichen Sinn, sondern durch Verbindlichkeit, Ehrlichkeit, Transparenz. Wer auch über unbequeme Themen spricht, öffnet Räume für Empathie – gerade dann, wenn harte Entscheidungen anstehen. „Remoteness ist nicht das Problem“, sagt Petriglieri. „Ignoranz ist das Problem. Und Krieg.“
Führung bedeutet deshalb, die Distanz nicht einfach hinzunehmen, sondern ihr eine Form zu geben: durch Fragen, durch Zuhören, durch eine Haltung, die Unterschiede nicht fürchtet, sondern versteht.
Vertrauen entsteht, wo Haltung trägt
Gianpiero Petriglieri forscht seit Jahren zu neuen Formen von Führung und Identität in Organisationen. Im Rahmen des Nordic Business Forum in Helsinki entstand ein Gespräch über Vertrauen, Werte und die Kunst, durch Haltung zu führen. Seine Perspektiven geben Impulse für eine Führungskultur, die weniger von Macht als von Menschlichkeit geprägt ist.