Demokratie scheitert selten an einem einzigen großen Ereignis. Sie erodiert in Nuancen: in der Art, wie Politiker sprechen, wie sie ihre Motive verpacken, wie sie die Wut der Bevölkerung verstärken oder besänftigen. Sprache ist nicht nur Kommunikationswerkzeug – sie ist politische Architektur. Sie schafft Realität, grenzt ein oder aus, baut Brücken oder reißt sie ein.
Dr. Gregor Gysi, einer der routiniertesten Stimmen des politischen Betriebs, formuliert diesen Zusammenhang auf dem 48forward Festival in München mit der entwaffnenden Klarheit eines Anwalts: „In der Demokratie geht es leider nicht um Wahrheiten, sondern um Mehrheiten.“ Dieser Satz legt eine Schwachstelle offen: Wer Mehrheiten sucht, passt seine Sprache an – und verliert dabei oft die Ehrlichkeit aus den Augen.
Wenn politische Sprache heute wirkt wie ein Konkurrenzkampf der Provokationen, liegt das nicht allein an Populisten. Es liegt auch an jenen, die den Mechanismus imitieren, ohne ihn zu durchschauen. Wenn Markus Söder Frauen als „Dame ohne Unterleib“ vergleicht oder der Kanzler von „kleinen Paschas“ spricht, ist das keine beiläufige Entgleisung, sondern kalkulierte Suchmaschinenoptimierung politischer Stimmungen. „Sie setzen Vokabeln immer in der Hoffnung ein, damit eine Mehrheit zu erreichen“, sagt Gysi im Gespräch mit der Journalistin Marieke Reimann. Doch die Rechnung ist trügerisch: Wer Sprache als Waffe nutzt, verliert sie als Brücke.
Die fragile Infrastruktur des Vertrauens
Deutschland befindet sich in einer eigentümlichen Phase: Die Zustimmung zur Demokratie sinkt, die Unzufriedenheit steigt. Laut aktueller Mitte-Studie vertrauen nur noch 49 Prozent der Deutschen dem politischen System. „Es gab Zeiten mit weit über 80 Prozent Zustimmung“, erinnert Gysi. „Heute können wir davon nicht einmal mehr träumen.“
Sein Befund ist unbequem: Politik unterschätzt die langfristigen Folgen kurzfristiger Rhetorik. Jede unausgesprochene Wahrheit, jeder opportunistisch verpackte Beweggrund beschädigt das zentrale Kapital der Demokratie – Glaubwürdigkeit. Gysi erzählt die Schuldenbremsen-Volte des Kanzlers als symptomatisches Beispiel: Vorgestern noch unantastbar, heute weit geöffnet. „Wieder sagt die Bevölkerung: Wir wurden belogen“, so Gysi. Und mit jeder solchen Erfahrung rückt die Grenze verschiebbarer Realität ein Stück nach vorne – zugunsten derer, die sie ohnehin mit Verve verschieben.
Gysi, der seit Jahrzehnten mit Leidenschaft und Hartnäckigkeit für demokratische Prozesse argumentiert, beschreibt das Problem an der Wurzel: Die Demokratie wird oft erst geschätzt, wenn sie verschwunden ist.
„Wenn eine Mehrheit mit Demokratie und Rechtsstaat nichts mehr anfangen kann, dann können wir sie nicht retten“, sagt er. Druck komme von außen – autoritäre Versuchungen angesichts des Aufstiegs Chinas und der Rückkehr Trumps. Und von innen – durch eine AfD, die Mehrheiten nicht überzeugt, sondern aus Erschöpfung erbt.
Ostdeutschland als blinder Fleck
Die politischen Verschiebungen sind besonders deutlich im Osten sichtbar – dort, wo Enttäuschung und Erfahrungslücken miteinander kollidieren. Dreißig Jahre nach der Einheit besteht strukturelle Ungleichheit fort, und die sozialen Spannungen drängen Parteien in die Defensive. Für Gysi bleibt eine zentrale Erkenntnis: Die Fehler der Wiedervereinigung wirken bis heute fort.
„Der große Fehler war, dass man die DDR auf Stasi, Mauertote und SED reduzierte und nichts vom gelebten Alltag übernahm“, sagt er. Dass Gleichberechtigung, Kinderbetreuung oder funktionierende kommunale Strukturen ignoriert wurden, habe Ostdeutsche nachhaltig entfremdet.
Die Linke, einst regionale Volkspartei, habe genau diesen Boden zeitweise aufgegeben – und Raum geschaffen für eine AfD, die sich als vermeintliche Interessenvertretung inszeniert, ohne die sozialen Konsequenzen ihrer Forderungen zu benennen. „Wenn Höcke sagt, er will alle mit Migrationshintergrund vertreiben, müssen wir sagen: Dann bricht unser Gesundheitswesen zusammen.“
Es ist diese unaufgeregte Klarheit, die Gysi nach wie vor auszeichnet: kein Alarmismus, sondern Faktenarbeit.
Digitale Lautstärke und der Verlust des Tons
Wer junge Menschen erreichen will, erreicht sie nicht mehr mit klassischen Debattenformaten. TikTok, Snippets, Remix-Kultur – politische Sprache verändert sich rasant. Die AfD hat diese Mechanismen früh genutzt, die Linke spät, aber zunehmend erfolgreich.
Gysi selbst wurde unfreiwillig Teil dieser Ästhetik: als Remix-Stimme („DJ Gysi“) unterlegt mit hämmernden Beats. Seine Reaktion bleibt lakonisch: „Wenn du die neuen Mittel nicht nutzt, erreichst du überhaupt keinen jungen Menschen.“
Hier liegt ein bemerkenswerter Gedanke: Moderne politische Kommunikation ist nicht automatisch populistisch. Sie ist zunächst einmal ein Transportmittel – und wer sie ignoriert, überlässt sie denen, die sie missbrauchen.
Ein Plädoyer für die Ehrlichkeit
Am Ende des Gesprächs steht ein leicht melancholischer Gedanke: Vertrauen entsteht nur dort, wo Menschen einander etwas zutrauen. Auf die Frage, wem er im politischen Betrieb zu 100 Prozent vertraue, muss Gysi lange überlegen. Er nennt Namen – Bartsch, Biski – und doch klingt es eher nach Inseln als nach System.
Vertrauen ist die Ausnahme geworden.
Dass Gysi dennoch unbeirrt für Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit argumentiert, hat mit seiner biografischen Perspektive zu tun: „Ich kenne zwei Systeme – und ich will nicht, dass wir zu einer autoritären Struktur zurückkehren.“
Es ist ein Satz, der in einer Zeit wachsenden Misstrauens schwerer wiegt als jede Pointe, jedes Meme, jeder virale Clip.