Es ist eine paradoxe Zeit. Noch nie zuvor hatten so viele Menschen so viel Freiheit bei der Gestaltung ihrer Arbeit – und noch nie war die Debatte darüber so polarisierend. Zwischen dem Ruf nach mehr Leistung und der Forderung nach mehr Sinn bleibt ein Schwebezustand, in dem sich viele verlieren. Die Pandemie hat uns ins Homeoffice katapultiert, in eine neue Ära der Autonomie. Doch was als Befreiung begann, droht mancherorts zur Vereinzelung zu werden.
„Wir erleben eine Form professioneller Einsamkeit“, sagt der Wirtschaftspsychologe Prof. Dr. Ingo Hamm, der sich mit dem Thema gerade in seinem neuen Buch "Kettensprenger" beschäftigt hat. Gemeint ist damit nicht nur das physische Alleinsein, sondern ein struktureller Rückzug: Mitarbeitende, die sich in die produktive Stille des Homeoffice flüchten – und dabei die Verbindung zur Organisation verlieren, zu Kolleginnen, zum großen Ganzen. „Wir degradieren uns selbst zu modernen Tagelöhnern“, warnt Hamm, „bei denen es kaum noch eine Rolle spielt, für wen sie eigentlich arbeiten.“
Zusammenarbeit als Ressource
Natürlich kann produktives Arbeiten in Isolation gelingen. Und doch fehlt etwas Entscheidendes: die Resonanz. Studien zeigen, dass Kreativität, Innovation und das Gefühl von Sinnhaftigkeit in Teams leichter gedeihen. Nicht umsonst verweist Hamm auf das Beispiel aus dem Sport: Ein gutes Fußballteam lebt nicht nur von Technik, sondern vom Zusammenspiel, von gegenseitiger Unterstützung – und vom gemeinsamen Ziel. „Warum finden wir das im Sport faszinierend, aber im ökonomischen Kontext zunehmend entbehrlich?“
Es geht ihm nicht um die Rückkehr ins Großraumbüro, sondern um neue Formen des Miteinanders. Um Konstellationen, die Menschen erlauben, sich einzubringen – nicht nur mit ihrer Kompetenz, sondern mit ihrer Motivation. Denn die entsteht, so Hamm, nicht durch äußeren Druck, sondern durch Selbstwirksamkeit: das Wissen, dass man mit dem eigenen Tun einen Unterschied macht.
Führen heißt: Menschen verstehen
Hier kommt die Rolle der Führung ins Spiel. Wer Mitarbeitende nur über Zahlen und Dashboards führt, verliert schnell den Blick für das Wesentliche: den Menschen. Gute Führung misst sich nicht an der Zahl der erledigten Aufgaben, sondern an der Fähigkeit, Talente zu erkennen, Räume zu schaffen – und Orientierung zu geben. Es braucht, so Hamm, kein Charisma, sondern Interesse. Und Zeit. „Führung ist nicht nur Aufgabenverteilung. Sie ist Beziehungsarbeit.“
Doch genau daran mangelt es vielerorts. Strukturen sind starr, Hierarchien oft noch auf Effizienz statt auf Entwicklung ausgelegt. Dabei wäre es gerade in Zeiten des Wandels notwendig, Mitarbeitende nicht zu kontrollieren, sondern sie zu begleiten. Denn die Anforderungen an Arbeit haben sich verändert: Was früher über Loyalität und Überstunden funktionierte, muss heute über Sinn und Passung gelöst werden. Wer das ignoriert, riskiert nicht nur Unzufriedenheit – sondern die besten Köpfe.
Vom Ich zum Wir
Hamm plädiert für eine neue Kultur der Arbeit, in der Selbstverwirklichung nicht als Luxus verstanden wird, sondern als Voraussetzung für echte Leistung. „Die Energiequelle liegt im Erleben von Wirksamkeit“, sagt er. Aber: Nicht jede Arbeit kann und muss zur Berufung werden. Auch das ist Teil seiner Botschaft. Wer im Beruf nicht vollständig aufblüht, kann Sinn im Privaten finden – im Ehrenamt, im Verein, in der Familie. Entscheidend sei, dass beide Seiten – Arbeitgeber wie Arbeitnehmer – diese Realität anerkennen und offen miteinander umgehen.
Das verlangt von Führungskräften ein anderes Selbstverständnis. Und von Organisationen die Bereitschaft, Arbeit nicht länger nur in Aufwand und Output zu messen, sondern in Beitrag und Potenzial. Peer-Reviews, offene Feedbackrunden und individuelle Entwicklungsgespräche können helfen, diese Beiträge sichtbar zu machen. Es geht nicht um Kontrolle, sondern um Sichtbarkeit – auch für jene, die leise wirken.
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Fotoquelle: Julian Beekmann