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Klaus Dörre: Verliert die Demokratie ihre gesellschaftliche Mitte?

Von außen unterwandert, von innen ausgehöhlt

Prof. Dr. Klaus Dörre
Prof. Dr. Klaus Dörre

Demokratie, so scheint es, ist kein festes Versprechen mehr, sondern eine stille Vereinbarung, deren Gültigkeit zunehmend bezweifelt wird – nicht nur an den Rändern der Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte. Es ist nicht der offene Widerstand, der den demokratischen Gemeinsinn zersetzt, sondern die schleichende Erosion der Überzeugung, dass dieses System in der Lage sei, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Diese Zweifel kommen nicht in Form eines großen Aufschreis, sondern in Form von Gleichgültigkeit, Achselzucken, schweigendem Rückzug.

Dabei bleibt die Idee der Demokratie abstrakt mehrheitsfähig. Die Mehrheit der Menschen wünscht sich ein demokratisches Gemeinwesen. Doch das Vertrauen, dass dieses Gemeinwesen auch handlungsfähig ist, bröckelt. “Die Zustimmung zur Demokratie ist da”, sagt der Soziologe Prof. Dr. Klaus Dörre, derzeit Gastprofessor am Kassel Institute for Sustainability, “aber die Überzeugung, dass sie noch in der Lage ist, Probleme zu lösen, nimmt dramatisch ab.”

Diese Diagnose ist nicht neu – doch Dörre geht weiter: Nicht nur in der Bevölkerung, auch in Teilen der wirtschaftlichen und politischen Eliten schwindet der Konsens darüber, dass Demokratie die bestmögliche Regierungsform ist. Was sich stattdessen durchsetzt, ist eine neue Form des autoritären Liberalismus. Ein Begriff aus der Endzeit der Weimarer Republik – damals geprägt vom Staatsrechtler Hermann Heller –, der heute wieder erschreckend aktuell klingt.

Der autoritäre Liberalismus: Freiheit für Märkte, Kontrolle für Menschen

Was ist damit gemeint? Es ist die Vorstellung, dass ökonomische Freiheit nur noch für das Kapital gilt, während gesellschaftliche Freiheiten zunehmend eingeschränkt werden. „Man hängt der Utopie einer von Regeln befreiten Wirtschaft an“, so Dörre, „und möchte zugleich einen autoritären Staat, der die Folgen dieser Entfesselung eindämmt.“ Liberalismus für Märkte, Autoritarismus für Menschen – das ist die paradoxe Logik dieses Modells.

Diese Denkweise ist längst nicht mehr nur in Talkshows oder Stammtischparolen zu finden. Sie hat sich in Vorstandsetagen und politischen Hinterzimmern eingenistet. „Selbst in mitbestimmten Unternehmen wie Volkswagen haben wir Manager getroffen, die offen bewundern, wie konsequent die chinesische KP ihre Ziele durchsetzt.“ Die Sehnsucht nach einem starken Staat paart sich mit einem Misstrauen gegenüber demokratischen Aushandlungsprozessen – eine toxische Mischung, die zunehmend auch die Unternehmenskultur prägt.

Hinzu kommt, dass die Mitbestimmung als demokratisches Prinzip innerhalb der Arbeitswelt kaum noch verteidigt wird. Eine Umfrage des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft ergab, dass nur noch in sieben Prozent der Unternehmen klassische Mitbestimmung stattfindet – bei gleichzeitig wachsender Skepsis gegenüber Betriebsräten. „In Thüringen“, berichtet Dörre, „habe ich auf einem Podium mit einer Wirtschaftsministerin gesessen, die sich öffentlich fragte, wozu man überhaupt noch Betriebsräte brauche – und dafür Applaus erhielt.“

Zwischen Warteschlange und Wut

Doch der vielleicht größte Widerspruch unserer Zeit liegt in der zunehmenden Anziehungskraft der radikalen Rechten auf genau jene, die unter ihrer Politik besonders leiden würden: Arbeiterinnen und Arbeiter. Die AfD erzielt in dieser Bevölkerungsgruppe seit Jahren überdurchschnittlich hohe Wahlergebnisse – trotz (oder gerade wegen) ihres wirtschaftsliberalen Programms.

Die AfD versteht es sehr genau, an der Grenze des Sagbaren zu agieren – das macht ein Verbot juristisch extrem schwer.

Prof. Dr. Klaus Dörre

Warum ist das so? Dörre verweist auf ein tief verankertes Gefühl des Abgehängtseins. Es sei das Bild der „Warteschlange vor dem Berg der Gerechtigkeit“: Viele Menschen hätten das Gefühl, seit Jahrzehnten anzustehen, ohne voranzukommen – während andere, „die man nicht gerufen hat“, sich vordrängten. Die Folge: ein verletztes Gerechtigkeitsempfinden, das von rechten Akteuren gezielt aufgeladen und instrumentalisiert werde.

Die neue Rechte habe es erfolgreich geschafft, den gesellschaftlichen Konflikt nicht mehr als Auseinandersetzung zwischen oben und unten zu framen, sondern zwischen innen und außen – zwischen jenen, die vermeintlich Anspruch auf das Volksvermögen haben, und jenen, die ihn unberechtigt erheben. Migration wird zur Bedrohung erklärt, ökologische Transformation zur Verschwörung, Klimaschutz zur „Planwirtschaft“. „Das ist die große Stärke der Rechten“, so Dörre, „sie besetzen nicht nur Themen, sie verändern die Bedeutungsordnung.“

Der blinde Fleck der demokratischen Mitte

Die etablierten Parteien und viele Medien haben diesen Bedeutungsverlust offenbar zu lange unterschätzt. In ihrer Orientierung auf die eigene Klientel sind sie immer weiter aus der Erfahrungswelt der arbeitenden Bevölkerung herausgerückt. Wenn über Lohnarbeit berichtet wird, dann selten über die Bedingungen. Wenn über Transformation gesprochen wird, dann kaum über jene, die ihre Last tragen sollen. „Die Arbeiter von Volkswagen in Kassel“, erzählt Dörre, „haben ihre vergleichsweise hohen Löhne als Schmerzensgeld für verlorene Lebenszeit bezeichnet.“

Wer so lebt, wählt nicht aus Überzeugung rechts – sondern aus Enttäuschung. Aus dem Gefühl heraus, nicht mehr gesehen und gehört zu werden. Der Nährboden für populistische Bewegungen ist nicht vorrangig Hass, sondern Resignation.

Zwischen Mut und Mitbestimmung

Was also tun? Der Schlüssel zur Erneuerung der Demokratie liegt dort, wo sie einst gewachsen ist: im Alltag. In Unternehmen, Schulen, Verwaltungen, Kommunen – überall dort, wo Menschen die Erfahrung machen, dass sie Teil eines größeren Ganzen sind. Das beginnt bei Mitbestimmung in Betrieben, reicht über ernst gemeinte Weiterbildung und Beteiligung an Transformationsprozessen – und endet nicht zuletzt in einer Unternehmenskultur, die Verantwortung nicht nur predigt, sondern ermöglicht.

„Wenn Beschäftigte das Gefühl haben, sie sind nur Kostenfaktor“, sagt Dörre, „dann sinkt die Identifikation mit dem Unternehmen dramatisch.“ Wer hingegen mitreden, mitentscheiden und mitgestalten darf, erlebt Demokratie nicht als abstrakte Idee, sondern als gelebte Wirklichkeit.

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Fotoquelle: Stella Weiß