Die deutsche Demokratie steht nicht am Abgrund. Aber sie taumelt. Nicht, weil sie instabil wäre – das Grundgesetz ist stabiler als je zuvor –, sondern weil ihr Fundament aus Zustimmung und Vertrauen porös zu werden droht. In den Rissen wuchert der Zweifel, wachsen Aggression und Verachtung. Die AfD ist längst mehr als ein Störfaktor im parlamentarischen Betrieb. Sie ist Ausdruck einer tiefgreifenden Entfremdung zwischen Teilen der Bevölkerung und dem demokratischen System – und der Beweis, dass unsere Demokratie zwar formal wehrhaft ist, aber faktisch oft zögert, sich zu wehren.
Die Erschöpfung einer Gesellschaft
Was ist geschehen? Über viele Jahre schien das deutsche Modell zu funktionieren: wirtschaftliche Stabilität, sozialer Ausgleich, politische Mäßigung. Doch dann kam ein Jahrzehnt der Erschütterungen. Finanzkrise, Flüchtlingsbewegungen, Pandemie, Krieg in Europa. Ein Ausnahmezustand jagte den nächsten. Der Krisenmodus wurde zum Dauerzustand – und damit zum Nährboden für Populismus und politische Radikalisierung.
Die AfD fährt regelmäßig ganze Tanklastzüge ins Feuer, um unsere Demokratie weiter zu destabilisieren.
Marco Wanderwitz
„In diesen zehn Jahren hat sich unser Land verändert“, sagt der frühere Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz. „Der Zusammenhalt hat sich verändert, der Diskurs hat sich verändert, das Sagbare hat sich verschoben.“ Tatsächlich erleben wir eine neue Qualität der Verrohung. Nicht nur im Tonfall. Auch in der politischen Realität: Die AfD steht in ostdeutschen Bundesländern bei Umfragewerten von über 30 Prozent, erringt Direktmandate, stellt faktisch Sperrminoritäten. In Thüringen und Sachsen ist ein Ministerpräsident aus ihren Reihen kein absurdes Gedankenspiel mehr, sondern eine reale Gefahr.
Verbot oder Verdrängung?
Was tun? Die einen plädieren für politische Auseinandersetzung, die anderen für ein Verbot. Wanderwitz gehört zu denen, die Letzteres fordern – und dies differenziert begründen: „Die AfD verhindert durch ihre permanente Beschallung der eigenen Anhängerschaft, dass wir diese Menschen überhaupt noch erreichen können. Ein Verbotsverfahren ist kein Allheilmittel, aber ein notwendiger Schritt, um wieder Gesprächsräume zu öffnen.“
Das Argument ist juristisch wie politisch nicht ohne Risiko. Ein gescheitertes Verfahren, wie einst bei der NPD, könnte der Partei gar nutzen. Doch Wanderwitz hält dagegen: „Das Material reicht aus. Der Verfassungsschutz stuft die AfD als gesichert rechtsextrem ein, ihre Ideologie widerspricht in zentralen Punkten Artikel 1 des Grundgesetzes – der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Und das reicht.“ Es fehlt, so Wanderwitz, nicht an Beweisen, sondern am politischen Mut, das Verfahren überhaupt anzustoßen.
Die Angst vor dem Mandat
Aber auch unabhängig von einem möglichen Verbot wird deutlich, dass der Druck auf Demokratinnen und Demokraten wächst. Nicht nur in den Parlamenten, sondern besonders auf kommunaler Ebene. Bürgermeister, Wahlkämpferinnen, Engagierte aus Zivilgesellschaft und Medien werden bedroht, angegriffen, systematisch eingeschüchtert. „Es gibt Menschen, die sagen, unter diesen Bedingungen will ich kein politisches Mandat übernehmen“, sagt Wanderwitz. „Und das ist genau das Ziel der AfD: den demokratischen Raum zu verengen.“
Hinzu kommt ein strukturelles Problem: In Teilen der Gesellschaft – vor allem in peripheren Regionen Ostdeutschlands – gibt es ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen. Wanderwitz verweist auf die Leipziger Autoritarismus-Studie, laut der 25 Prozent der Ostdeutschen eine Diktatur für eine geeignete Staatsform halten. „Das sind keine Protestwähler. Das sind Menschen mit gefestigten antidemokratischen Überzeugungen.“
Und doch darf das nicht als Schicksal hingenommen werden. Die Demokratie muss nicht nur geschützt, sondern auch wieder als gestaltende Kraft erlebbar werden. Dazu gehört, auch rechte demokratische Positionen wieder als Teil des legitimen Diskurses zu akzeptieren – solange sie eben nicht ins Radikale kippen. „Es war ein Fehler, alles, was rechts der Mitte liegt, pauschal zu diskreditieren“, sagt Wanderwitz. „Das hat den Raum für die AfD überhaupt erst eröffnet.“
Eine letzte Hoffnung?
Was also bleibt? Trotz aller düsteren Diagnosen: Es gibt noch Grund zur Hoffnung. Das beschlossene Sondervermögen für Verteidigung und Infrastruktur, die Diskussionen über eine robustere Regulierung digitaler Plattformen, die vielen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus – sie alle zeigen, dass sich die Zivilgesellschaft noch nicht aufgegeben hat. Doch das allein wird nicht reichen. Es braucht eine politische Kultur, die wieder Vertrauen schafft – durch Handwerk, nicht durch Pathos. Und eine Debatte, die klar benennt, was Demokratie ist – und was nicht.
„Man muss optimistisch bleiben“, sagt Wanderwitz. „Nicht aus Naivität, sondern aus Verantwortung. Wer jetzt den Kopf in den Sand steckt, überlässt das Feld den Falschen.“