Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel, schien der Kontinent für einen Moment den Atem anzuhalten. Häuser brannten, Leben zerbrachen – und Europa begriff, wie nah Gefahr wieder sein kann. Doch je länger dieser Krieg andauert, desto mehr verschiebt sich die innere Statik vieler Menschen. Die Aufmerksamkeit sinkt, die Nachrichtenflut stumpft ab, und das Leid verliert seine Schärfe. „Wir können am Quotenverlauf genau sehen, was noch geklickt wird“, sagt Journalist Paul Ronzheimer. „Dramatische Einzelgeschichten interessieren nur, wenn sie außergewöhnlich sind. Ein Drohnenangriff mit fünf Toten? Da zuckt kaum noch jemand.“
Eine erschreckende Diagnose. Sie beschreibt nicht nur den Zustand der Mediennutzung, sondern auch eine Gesellschaft, die sich zwischen Daueralarm und Überforderung eingerichtet hat. Ein Gefühl, das längst über die Ukraine hinausreicht.
Der Krieg, der nicht endet
Die Realität an der Front spricht eine klare Sprache. Von Frieden sei man „Lichtjahre entfernt“, sagt Ronzheimer. Nicht nur, weil Wladimir Putin keinerlei Bereitschaft zur Deeskalation zeigt – im Gegenteil, Russland profitiert derzeit von einer Kriegswirtschaft, die Waffenproduktion, Soldgehälter und Mobilisierung in einen brutalen ökonomischen Kreislauf verwandelt.
Gleichzeitig ringt die Ukraine mit einer Erschöpfung, die kaum zu übersehen ist: Soldaten, die seit Jahren kämpfen. Familien, die ohne Strom oder Wasser in Hochhäusern ausharren. Menschen, die 25 Stockwerke steigen müssen, um einen Kanister aus einem der wenigen funktionierenden Brunnen zu holen. Bilder, die selten noch Eilmeldungen werden.
„Die Ukrainer wären sofort bereit für einen Waffenstillstand entlang der aktuellen Linie“, sagt Ronzheimer. „Aber Russland verlangt die Kapitulation ganzer Regionen.“ Ein Frieden, der keiner wäre.
Die internationale Öffentlichkeit hingegen verliert den Fokus. Manchmal entscheiden Profilbilder auf Instagram, wie viel Empathie ein Konflikt erhält – und wie schnell sie wieder verschwindet.
Die Müdigkeit der Öffentlichkeit
Der Krieg in der Ukraine ist längst nicht der einzige Konflikt, der unter der Last der globalen Nachrichtenströme verblasst. Jede Woche dringen Meldungen aus Beirut, Israel, dem Gazastreifen, Afrika, Asien durch – oft nur noch als kurze Schlaglichter, die sofort von der nächsten Krise überdeckt werden.
„Früher wären bestimmte Ereignisse tagelang Thema gewesen“, sagt Ronzheimer. „Heute rauschen sie vorbei.“ Das liege nicht nur an den Medien, sondern auch an einer Gesellschaft, die sich an ständige Erschütterungen gewöhnt hat. Die Sensorik stumpft ab.
Gleichzeitig bietet genau diese Müdigkeit Einfallstore für einfache Antworten – und für jene politischen Kräfte, die sie bereitwillig liefern. Die AfD ist nur ein Symptom. Sie wächst in einem Klima, in dem Unsicherheit und Wut zu politischen Treibstoffen werden.
Dabei zeigt die Erfahrung der vergangenen Monate eines deutlich: Hartnäckige inhaltliche Auseinandersetzung wirkt. „Interviews, die über Renten, Wirtschaft oder Alltagsfragen gehen, schaden der AfD mehr als alles andere“, sagt Ronzheimer. Nicht Empörung, nicht moralische Entrüstung – sondern sachliche, unaufgeregte Konfrontation.
Die Rückkehr zum Zuhören
Vielleicht ist es kein Zufall, dass Podcasts – gerade die langen, unaufgeregten – derzeit so erfolgreich sind. Sie bieten Tiefe in einer Welt der Reizüberflutung. Sie ermöglichen Nähe in einer Zeit, in der viele Stimmen gegeneinander anschreien. Und sie schaffen Raum für Analyse, Erklärung, Haltung.
Ronzheimer sagt: „Die Menschen wollen verstehen.“ Sein eigenes Format ist dafür zum Beweis geworden – Millionen hören zu, obwohl er täglich eine Stunde über schwerste Themen spricht. Oder gerade deshalb. Denn gegen die digitale Hast und die Oberflächlichkeit vieler Debatten wächst der Wunsch nach Entschleunigung, nach Kontext, nach Einordnung.
Und vielleicht auch nach Menschlichkeit. Der Krieg, sagt er, zerstört nicht nur Städte, sondern oft das Band zwischen Menschen, die einst miteinander verbunden waren. „Viele meiner Freunde haben russische und ukrainische Eltern. Und plötzlich kämpft ein Sohn auf dieser Seite, ein anderer auf jener.“ Wie soll man da an die Liebe glauben? Und doch: Er trägt diese Erlebnisse nicht wie ein Gewicht mit sich herum, sagt er. „Ich habe mir diesen Beruf ausgesucht. Ich könnte aufhören. Aber ich will verstehen, was passiert.“