Demenz ist mehr als nur das Vergessen. Sie ist der schleichende Verlust dessen, was einen Menschen ausmacht – seine Erinnerungen, seine Sprache, sein Wesen. Und sie ist eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Über 1,8 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer demenziellen Erkrankung, Tendenz steigend. Doch das Wissen um die Krankheit bleibt erstaunlich lückenhaft. Und das Bild, das sich viele Menschen machen, ist oft geprägt von Angst und Hilflosigkeit.
„Die Leute haben eine wahnsinnig fatalistische Haltung zu dem Thema“, sagt die Psychologin und Musikerin Dr. Sarah Straub. „Ich erlebe es immer wieder, dass sich meine Patientinnen und Patienten schämen, wenn sie merken, dass sie im Kopf nicht mehr so funktionieren wie früher.“ In ihrer Sprechstunde begegnet sie regelmäßig Menschen, die lange versucht haben, ihre Symptome zu verstecken – aus Angst, aus Unsicherheit, aus Scham.
Vielfalt der Ursachen, Vielfalt der Symptome
Demenz ist nicht gleich Alzheimer. Auch wenn die Alzheimer-Krankheit die bekannteste und häufigste Form ist, umfasst der Begriff Demenz viele unterschiedliche Erkrankungen. Und ebenso vielfältig sind ihre Ursachen: Gefäßveränderungen, genetische Defekte, Eiweißablagerungen im Gehirn – sogar ein Vitaminmangel kann reversible demenzielle Symptome hervorrufen. Bei der sogenannten frontotemporalen Demenz, auf die sich Straub spezialisiert hat, verändert sich oft nicht das Gedächtnis, sondern das Verhalten. Die Betroffenen sind oft jünger – manche unter 30. Auch das ist Demenz.
Es gibt Demenzformen, die durch einen starken Vitamin-B12-Mangel ausgelöst werden – und behandelbar sind.
Dr. Sarah Straub
„Viele glauben, dass kognitive Beeinträchtigungen einfach zum Alter dazugehören“, erklärt Straub. „Aber das stimmt nicht. Eine Demenz ist immer eine Erkrankung – und sie gehört behandelt.“ Genau hier liegt ein entscheidendes Problem: die späte Diagnose. Dabei sind die heutigen diagnostischen Mittel gut – von MRTs über Liquordiagnostik bis hin zu neuropsychologischen Tests. Was fehlt, ist nicht Technik, sondern der gesellschaftliche Wille zur Auseinandersetzung.
Therapie ohne Tabletten
Die medizinische Behandlung von Demenz bleibt schwierig. Neue Medikamente wie Lecanemab können den Krankheitsverlauf verlangsamen – heilen können sie nicht. „Wir haben noch keinen Wirkstoff, der geschädigtes Gehirngewebe wiederherstellen kann“, sagt Straub. Umso wichtiger sind nicht-medikamentöse Therapieformen: Ergotherapie, Logopädie, Kunst – und vor allem Musik.
Straub weiß, wovon sie spricht. Sie ist nicht nur promovierte Demenzforscherin, sondern auch Berufsmusikerin. Ihre beiden Welten – Forschung und Kunst – vereint sie auf eindrucksvolle Weise. Wenn sie auf der Bühne steht, sitzen immer wieder auch Menschen mit Demenz im Publikum. Für sie ist das Teilhabe im besten Sinne. Und sie sieht, was Musik auslösen kann: „Wenn Alzheimer-Patienten ihre Lieblingsmusik hören, ist das wie ein Türöffner zur eigenen Identität. Plötzlich erinnern sie sich, plötzlich sind sie wieder da.“
Die Biografie, so sagt sie, ist der Schlüssel. In der Pflege werde das noch viel zu selten beachtet. „Es reicht nicht, allen dieselben alten Schlager vorzusetzen. Die Menschen, die heute im Heim leben, haben Beatles gehört. Die hatten Lieblingsfilme, sie haben getanzt, geweint, geliebt – und all das steckt noch in ihnen. Wir müssen ihnen helfen, es wiederzufinden.“
Hoffnung, die konkret werden muss
Die Forschung steht noch am Anfang. Aber sie macht Fortschritte. In der Genetik, in der Früherkennung, in der Frage, wie sich der Verlauf verlangsamen lässt. Und auch im gesellschaftlichen Umgang gibt es zarte Signale der Veränderung. Die Angst ist groß, ja. Aber sie kann kleiner werden – durch Wissen, durch Nähe, durch Gespräche.
„Das Leben ist erst vorbei, wenn es vorbei ist“, sagt Straub. „Und jede und jeder hat das Recht, so lange wie möglich gut zu leben – auch mit einer Demenz.“ Der Schlüssel liegt in der Offenheit, in der Aufklärung, in der Bereitschaft, hinzuschauen. In Familien, in Schulen, in der Pflege. Und vielleicht auch in einem Konzertsaal.
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Fotoquelle: Hauke Dressler